Das Rotwild

Zum Tier des Jahres 2002 hat die SCHUTZGEMEINSCHAFT DEUTSCHES WILD (Organisation zur Erhaltung der freilebenden Tierwelt), das Rotwild gewählt. Zum zweiten Mal, denn diese Tierart war 1994 schon einmal dazu bestimmt worden. Die nochmalige Benennung wird damit begründet, dass die Situation des größten Tieres unserer Wälder sich in diesen acht Jahren nicht gebessert, sondern eher noch verschlechtert hat. Aus gleichem Grund war auch der Weißstorch im letzten Jahrzehnt zwei Mal zum Vogel des Jahres gekürt worden. Die Familie der Hirsche, zu der auch die Art Rothirsch zählt, ist weltweit mit 31 Arten vertreten. Einige sind bereits verschwunden, beispielsweise der Schomburgk-Hirsch und der Riesenhirsch, der ein über vier Meter breites Geweih hatte. Zwanzig Hirscharten sind nach Untersuchungen der Internationalen Union zur Erhaltung der Natur und der natürlichen Hilfsquellen (IUCN) gegenwärtig in Existenzgefahr. Noch gehört das Rotwild nicht dazu, doch gilt es als nicht ausgeschlossen, dass dies eines nicht so fernen Tages durchaus der Fall sein könnte.

Rotwild

Ein Hinweis darauf ist die Tatsache, dass Rotwild heute nur noch auf einem Siebentel der Landesfläche Deutschlands anzutreffen ist. Außerdem leben die Tiere in Gebieten, die von einander getrennt sind, was nach Angaben der Arbeitsgemeinschaft Rotwild in rund 140 vorwiegend kleinen und kleinsten Biotopen der Fall ist. Diese Einschränkung hat schwerwiegende Folgen, denn sie macht einen Austausch der Populationen unmöglich.

Hirsche

Die Gründe für die Lebensraum-Begrenzung sind vielfältig. Das Wild hat durch immer noch zunehmende Zersiedlung keine Rückzugsräume mehr. Die Landschaft wird in hohem Maße verbraucht: durch Ausbau der Infrastruktur, Siedlungs- und Straßenbau. Täglich gehen nach Auskunft von Rolf-Walter Becker von der AG Rotwild über 120 Hektar Fläche als Wildlebensraum verloren. Leben unsere Wildtiere in den neuen Bundesländer in vielen kleineren, aber vor allem auch wenigen großflächigen Vorkommen, so ist im Westen meist das Gegenteil der Fall. Es sind durchweg kleinere Biotope und nur wenige große. Die Lebensräume rangieren zwischen 3.000 und 250.000 Hektar. So kommt es, dass die Rotwildgebiete in Deutschland von 6.000 ha im Saarland bis zu 681.000 in Mecklenburg-Vorpommern, 807.000 in Brandenburg und 820.000 Hektar in Bayern reichen. Ein immer dichteres Wegenetz, moderne Landwirtschaftsmethoden, Tourismus und Skibetrieb mit immer mehr Liften vor allem im alpinen Raum sind weitere Faktoren, die zunehmenden Zivilisationsdruck auf die Wildtiere ausüben.

Rückt so der Mensch den Tieren des Waldes zu dicht aufs Fell, schadet er gerade dem Rotwild noch weiter dadurch, dass viele diese Art als Waldschädling ansehen. Das schlechte Image, das besonders dieser Tierart anhaftet, entstand nicht zuletzt durch Horst Sterns Medienbeiträge „Bemerkungen über den Rothirsch“ in den siebziger Jahren. Vokabeln wie „Umweltschädling“ und „Krippenfresser“ spuken immer noch in den Köpfen vieler Menschen herum, die nicht erkennen können oder wollen, dass die Verschlechterung der Wildbiotope zum Teil auch durch eine Jahrzehnte lange falsche Forstwirtschaft ausgelöst wurde. Man schuf Fichtenmonokulturen und unterdrückte das Laubholz.

Alle diese Faktoren zusammen genommen führten dazu, dass die so bedrängten Wildtiere immer weniger Ruhe fanden, nervös wurden und sich auch deshalb verstärkt mit Schälen und Verbeißen der Bäume „revanchieren“.

Röhrender Hirsch

Vielerlei ist notwendig, um diese Entwicklung zu bremsen, sie ins Gegenteil zu verkehren. Vorrangig ist, dass in unserem hochtechnisierten und dicht besiedelten Land ausreichend viele und großräumige Lebensräume für das Wild verfügbar sind. Es muss der Prozess gestoppt werden, in dessen Verlauf die behördlich ausgewiesenen Rotwildgebiete einem ständigen schleichenden Verlust an Fläche unterliegen, und zwar sowohl an den Außenrändern als auch in ihrem Inneren. Erforderlich ist auch eine stärkere Einschränkung der behördlich angeordneten „rotwildfreien“ Landschaftsräume. Sie haben durchweg keinen Schutzstatus. Da in ihnen Fernwechsel des Wildes in benachbarte Rotwildvorkommen liegen, kommt ihnen große Bedeutung zu. Diese Fernwechsel-Korridore sind gerade bei Straßenbauten dann gefährdet, wenn keine wildökologischen Gegenmaßnahmen getroffen werden. So ist zum Beispiel der bis jetzt noch intakte „Ost-West-Korridor“ des Rotwildes, der sich vom Erzgebirge über Thüringer Wald und das östliche Hessen bis zum Rothaargebirge erstreckt, ernsthaft bedroht: durch die Bauprojekte der A 44 Kassel-Eisenach, der A 9 Nürnberg-Berlin sowie der A 17 Dresden-Prag. Bei diesen Projekten könnten zum Teil Grünbrücken helfen, wozu die AG Rotwild seit einiger Zeit Vorschläge erarbeitet. Außerdem müssen die bisher vereinzelten Rotwildgebiete zu „Rotwild-Regionen“ zusammengefasst werden.

Um die Situation des Rotwildes in Deutschland zu verbessern, sind Ruhezonen für die Tiere sowie Wildwiesen zu schaffen. Grünäsungsflächen sind, wie Dr. Michael Petrak von der Landesanstalt für Ökologie, Bodenordnung und Forsten feststellt, sowohl aus wildbiologischen als auch aus waldbaulichen Gründen zur Wildschadensvermeidung sinnvoll. Denn alle Grasformationen sind bedeutsame Äsungsflächen für Wiederkäuer.

Wenn auch die Größe des Rotwildes imposant ist, so sind diese Tiere doch sehr empfindlich. Diese Tierart lässt sich, wie es auch bei vielen anderen Arten ist, nicht ohne weiteres so einordnen, wie der Mensch es am liebsten hätte. Sie weicht aus und konzentriert sich, was wiederum zu Schäl- und verstärkten Verbiss-Schäden führt. Wenigstens regional sind Verbesserungen zu verzeichnen. So kommt das „Forstliche Gutachten 2001“ in Baden-Württemberg zu dem Ergebnis, dass der Wildverbiss zurückgegangen ist. Es heißt, dass bei den Baumarten Fichte und Buche fast schon eine entspannte Lage vorherrscht, was aber nicht für Tanne und Eiche gelte.

Wichtige Resultate zu den Waldschäden vor allem im alpinen Raum brachte das FUST-Forschungsprojekt „Alpine Umweltgestaltung“. Man arbeitet an einem dauerhaften Kompromiss zwischen Land- und Forstwirtschaft, Jagd und Naturschutz.

Zu den wichtigen Forderungen des Forschungsprojektes gehört auch das Problem der umstrittenen Rotwild-Wintergatter. Man kam nach gründlichen Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass solche Gatter allenfalls kurzfristig eine Lösung sein könnten. Viel wichtiger sind in jedem Fall landschaftsplanerische Schritte sowie forstliche und jagdliche Maßnahmen, die darauf abzielen, die Ursachen der Waldschäden zu beheben. Es geht schließlich um die nachhaltige Sicherung des Lebensraumes für die Wildtiere. Eine Alternative zu Wintergattern stellen Ausgrenzungszäune dar. Sie schließen die Tiere nicht ein, sondern verhindern lediglich an bestimmte Stellen das Einwechseln des Wildes in Bestände, die ganz besonders gefährdet sind. Doch auch für die gilt, dass sie nicht als Ersatz oder zur Einschränkung des Lebensraumes für das Wild führen dürfen.

Eine Erkenntnis, die im Allgemeininteresse immer stärker greift, ist: Das Wild ist im Sinne des Naturschutzes und besonders der Arterhaltung weit mehr als bisher als Landschaftsgestalter anzusehen und ihm auch die Gelegenheit dazu zu geben. Gerade das Rotwild kann dazu mithelfen. „Mehr Wildnis“ ist eine immer lauter erhobene Forderung, und dazu gehört, langfristig Monokulturen unserer Wälder aufzulösen. Und es wird dadurch auch erreicht, dass Platz geschaffen wird für eine Anzahl anderer Tierarten, beispielsweise für das Auerwild. Wenn es erreicht werden kann, dass dort auch Rotwild anzutreffen ist, kommt auch der Erholung suchende Mensch wieder dazu, einen Hirsch oder gar ein Rotwildrudel zu beobachten _ und ganz besonders nicht zuletzt auf diese Weise eine positive Einstellung zu den Tieren dieser Art zu finden.

Jana Brinkmann-Werner
Letzte Artikel von Jana Brinkmann-Werner (Alle anzeigen)