Das Tier des Jahres 1997 ist der Alpensteinbock (Capra ibex). Die SCHUTZGEMEINSCHAFT DEUTSCHES WILD, Organisation zur Erhaltung der freilebenden Tierwelt, wählte diese Tierart aus verschiedenen Gründen: einmal, weil es beim Steinbock um eine besonders markante Tiergestalt geht, die nahezu ausgerottet worden wäre, und außerdem, weil es sich hier um eine gelungene Wiedereinbürgerung einer Art handelt. Das ist durchaus nicht die Regel, denn nach einer kürzlichen amerikanischen Untersuchung hat es weltweit über hundert verfehlte Wiedereinbürgerungen, jedoch nur wenig mehr als ein Dutzend geglückte gegeben.
Wenige Tierarten haben ein so ungewöhnliches Schicksal wie der in der hohen Bergwelt lebende Steinbock, der ebenso wie die Schraubenziege und die Bezoarziege zu den Wildziegen gehört und von dem es außer dem Alpensteinbock und dem Iberiensteinbock noch weitere fünf Unterarten gibt: den Abessinischen, Nubischen, Ostkaukasischen und Westkaukasischen sowie den Sibirischen Steinbock. Das wußte schon der Zürcher Arzt und Naturforscher Conrad Gesner, der in seinem berühmten „Thierbuch“ des 17. Jahrhunderts schrieb: „Unter die wilden Geißen wird auch der Stein-Bock gezähmt / ist ein wunderlich / verwegenes / und geschwindes Thier / wohnet in den höchsten Plätzen und Orten der Teutschen Alpen / Felsen/ Schrofen / und wo alles gefroren / Eyss und Schnee ist / welche Orte genannt werden der Firn und Glättscher: Dann von wegen seiner Natur erfordert dieses Thier Kälte / sonst würde es erblinden“.
Die Römer holten Steinböcke zu Kampfspielen nach Rom. Viele römische und etruskische Spangen wurden nach der Form des Steinbockgehörns gestaltet. Doch der Niedergang dieser Tierart begann mit dem Mittelalter, als Aberglaube und Volksmedizin dem Steinwild ungewöhnliche Kräfte zuschrieben – Märchen und Legenden über die Jahrhunderte hinweg hatten unheilvolle Auswirkungen. Die Hörner des Steinbocks, so glaubten selbst Jäger des Mittelalters, fingen das aus großer Höhe herabstürzende Tier auf und schützten es auch vor den anrollenden Steinhaufen. Und ein anderer Irrglaube galt dem „Todesritual“ des Steinbocks: Auf dem höchsten Kamm des Berges, so wurde erzählt, stütze das Tier seinen Kopf auf den Fels und beschreibe solange Kreise, bis die Hörner abgeschliffen seien – dann falle es um und verende. Doch was für den gewandten Kletterer beinahe das Aus bedeutet hätte, waren die Wunderwirkungen, die seine Körperorgane angeblich haben sollten. Innerhalb kurzer Zeit wurde der Steinbock zur „wandelnden Apotheke“. Steinbockblut gegen Blasensteine, sein Kot gegen Schwindsucht und die Bezoarsteine – Kugeln aus Haaren, Harzen und Steinen im Magen – als Hilfe gegen Krebs: Das war das Todesurteil für Tausende und Abertausende von Tieren. Geheime Wunderwirkungen wurden sogar den „Herzkreuzchen“ angedichtet, den herzförmig verknöcherten Sehnen der Herzmuskeln. Wer also wie im 14. Jahrhundert mit dem „Gamsschaft“, einem 7 m langen Stab mit Spitze, oder später mit der Büchse einen Steinbock erlegen konnte, war fast schon ein gemachter Mann. Was nicht verwundern kann, unterhielten doch selbst die Bischöfe von Salzburg in ihrer Stadt und auch in Berchtesgaden eigene „Steinbock-Apotheken“, wo die wunderlichsten Mittel vertrieben wurden.
So kam es, wie es nicht anders erwartet werden konnte: Der Steinbock verschwand aus immer mehr Regionen der Alpenländer. Ende des 17. Jahrhunderts war das Tier mit den gewaltigen Hörnern fast ganz ausgerottet. Die abergläubischen Vorstellungen der Menschen und daraus folgend übermäßige Jagd galten mehr als die vielen kleinen Wunder, die das Dasein, die Fähigkeiten und erstaunlichen Verhaltensweisen dieser Tierart auszeichnen.
Welche Lebewesen können schon in einer Höhe bis zu 3500 Meter zuhause sein, weit oberhalb der Waldgrenze, und dort auch den tiefsten Temperaturen trotzen? Auch besonders harte Winter brachten bisher dem Steinwild keine über das normale Maß hinausgehenden Verluste. Zwar ist das winterliche Nahrungsangebot karg, doch immer wieder findet der Steinbock unter dem Schnee Flechten und magere Grasreste. Und wenn Eis und Schnee das Leben zu hart werden lassen, ziehen die Tiere in tiefere Lagen hinab, wo sie noch ausreichend Nahrung finden. Bei ihren Wanderungen werden Steige an einem Hang entlang oder über einen Grat oder Gipfel begangen, Täler und flache Hänge werden gemieden. Die Kletterkünste, die von den Hornträgern dabei vollführt werden, haben die Menschen seit alters her fasziniert. „Er setzt mit unglaublicher, geradezu unverständlicher Sicherheit die Wände hinauf‘, bewunderte Tiervater Brehm den Steinbock. „Beim Springen scheint er den Körper wie einen Ball in die Höhe zu schnellen und die Felsen kaum zu berühren. Spielend schwingt er sich von einer Klippe zur anderen und ohne Besinnen setzt er herab in unbestimmte Tiefe“.
Das ist den vierbeinigen Kletterern nur möglich, weil ihre Hufe, obwohl klobig wirkend, in ganz besonderer Weise gestaltet sind. Die beiden Hälften der Innenflächen, die weich sind, können sich erheblich gegeneinander verschieben, so daß sie sich dem Untergrund anpassen und auf dem Fels Halt geben. Dennoch geschieht es immer wieder, daß ein Tier wegrutscht, doch auch dann ist es nicht verloren, da die Hufränder überaus hart und in der Lage sind, an Unebenheiten des Fels Halt zu finden. Dabei können sich die Steinböcke frei bewegen, ohne Ausschau nach Feinden halten zu müssen. Luchs und Bär, die natürliche Feinde wären und dabei sind, auch die Alpenländer neu zu erobern, bewegen sich so gut wie nie in solchen Höhen und unzugänglichen Regionen. Bleibt nur der Steinadler, der glücklicherweise wieder zahlreicher im alpinen Raum geworden ist – er wird aber nur sehr jungen Kitzen gefährlich.
Ungewöhnlich wie so vieles andere im Steinbockleben sind auch Sozialverhalten und Fortpflanzung. Besonders charakteristisch bei dieser Tierart sind die Rangordnungskämpfe der Böcke, die nach festen Ritualen vor sich gehen und mehr ein Kräftemessen als ein Kampf sind. Denn weder bei den Sommergefechten, die von den Zoologen als „Kommentkämpfe“ bezeichnet werden, noch bei den Auseinandersetzungen während der winterlichen Brunftzeit geht es blutig zu oder auf Leben und Tod. Meist ist schnell ausgemacht, wer der Stärkere ist und das Sagen in diesem Revier hat; die Verfolgung des Unterlegenen durch den Platzhalter trägt mehr symbolischen Charakter.
Wenn Steinböcke kämpfen, marschieren sie zunächst nebeneinander her, um sich dann auf den Hinterläufen aufzurichten und von oben mit aller Kraft mit dem Gehörn zusammenzuschlagen. Auch versuchen sie, sich mit überkreuzten Hörnern Stirn an Stirn fortzudrängen, wobei sich meist bald entscheidet, wer als Schwächerer sein Heil in der Flucht zu suchen hat.
Ende des Jahres, mitten im Winter, ist die hohe Zeit des Steinwildes, die Brunft. Wie sie abläuft, ist gut bekannt, doch an etwas rätseln die Biologen bis heute herum: Warum Steingeißen von Bockgruppen, meist sogenannten „Junggesellenklubs“, zu einer Zeit gehetzt werden, die lange vor der Paarung liegt, oft bis zu sechs Wochen, bevor die Paarungsbereitschaft gegeben ist. Zwischen 150 und 180 Tagen dauert es, bis die Steinbockmutter Ende Mai oder im Juni ihr Kitz setzt – Zwillinge sind selten. Enger als bei den meisten anderen Tierarten ist die Bindung zwischen Mutter und Kind. Stets ist das Muttertier in der Nähe, Körperkontakt wird groß geschrieben. Doch nach vier Wochen schließen sich die Kitze zu Gruppen zusammen, die es möglich machen, Kampfspiele zu üben, das Klettern und Springen zu lernen, Verfolgungsspiele zu trainieren – all dies gehört zu den ersten Rang-Auseinandersetzungen.
Trotz des entlegenen und harten Lebensraumes, der die Heimat des Steinbockes ist, wäre es Ende des 17. Jahrhunderts beinahe geschehen, diese Tierart in den Alpen auszurotten. Nur eine kleine Familie gelangte in das italienische Bergmassiv des Gran Paradiso. Hier, im fast 550 qkm großen Nationalpark, konnten sich die von Gewinnsucht, Wilderei und übertriebener Jagd Gehetzten unter dem Schutz des Königs Viktor Emanuel II. erholen und wieder vermehren. Es war vor allem die tatkräftige Hilfe des Försters Josef Zumstein und des Naturkundlers Albert Girtanner, denen die Böcke mit dem bis zu einem Meter langen und 10 Pfund schweren Gehörn ihr Überleben verdanken. Es dauerte über 150 Jahre, bis die Verantwortlichen sich darauf besannen, den Steinbock dort wieder anzusiedeln, wo seine Heimat ist.
Schweizerische Initiative war es vor allem, die es schaffte, das in ihrem Land verschwundene Steinwild zurück in das Reich der hohen Berge zu holen. 1892 wurde nahe St. Gallen der Wildpark „Peter und Paul“ gegründet und hierher kamen 1906 die ersten reinblütigen Steinböcke – auf eben nicht feine, jedoch überaus wirkungsvolle Art aus dem Gran Paradiso herausgeschmuggelt. „Reinblütig“ zu sagen, ist wichtig, denn vor der Ansiedlung im Gran Paradiso war vielerorts in Tiergärten und Gehegen versucht worden, die Art mit Kreuzungen zwischen weiblichen Hausziegen und Steinböcken zu erhalten. Die Zucht in Zoos und Wildgehegen, die heute für die weitaus meisten Tierarten kein Problem mehr ist, war damals noch nicht möglich. Wie abwegig aber solche Kreuzungsversuche waren, zeigt das Beispiel des berühmten Berner Stadtgrabens, wo Ziegen-Steinbock-Mischlinge eingesetzt wurden. Die Tiere waren alles, nur keine Steinböcke; dafür jedoch überaus angriffslustig, denn in Tagesberichten der Aufseher ist häufig von „rüpelhaften Attacken der Ziegensteinböcke“ zu lesen.
1911 wurden in der Schweiz die ersten Alpensteinböcke in die Freiheit entlassen. Sie waren ebenso wie alle nach ihnen wiederangesiedelten Tiere Nachfahren der kleinen Familie,
die im Gran Paradiso überleben konnte. Heute besiedeln wieder fast 30 000 der Kletterkünstler die Bergregionen der Alpen. „Nur im deutschen Teil der Alpen sind sie nicht wieder heimisch geworden“, wurde 1968 in „Grzimeks Tierleben“ vermerkt. Drei Jahrzehnte später trifft dies nicht mehr zu, denn gegenwärtig ziehen wieder rund 200 Hornträger durch den bayerischen Alpenraum. So gut hat die einst fast verschwundene Art sich im Bestand erholt, daß seit 1991 wieder vorsichtig gejagt wird, um die Bestände zu regulieren. Vor allem Tiere der obersten Altersklasse ab 12 Jahren werden erlegt.
Vorsicht ist bei alledem geboten, denn trotz der erfreulichen Entwicklung der Population im Alpenraum ist der Steinbock immer noch unter „Potentiell gefährdet“ in den Roten Listen verzeichnet. Sicherlich wird die Alpenkonvention, da sie auch zur Sicherung seines Lebensraums beiträgt, eines Tages zur Folge haben, daß der Steinbock noch größere Teile des alpinen Raums besiedelt. Und auch die Wahl dieser Art zum Tier des Jahres 1997 durch die SCHUTZGEMEINSCHAFT DEUTSCHES WILD trägt mit dazu bei, das wiedereingebürgerte Steinwild, wohl das markanteste Wild der Berge, zu schützen und zu erhalten.